Einleitung

Die Reaktionen auf meinen Artikel Hochbegabung und Hochsensibilität in Unternehmen, den ich im April 2021 auf dem Blog von T2 Informatik veröffentlichte, überraschten und freuten mich!

  • Vielen Dank für den wertvollen Beitrag zu diesen Themen. Ich würde gerne ergänzen: Und nicht immer nur da zu finden, wo man es auf Anhieb vermutet…
  • „Clever ohne Erlaubnis“ – da steckt viel Wahrheit drin!
  • Liebe @CKFJung ein ganz wunderbarer Beitrag – herzlichen Dank fürs Teilen deiner Erfahrungen.
  • Klasse Artikel, liebe Christine. Mir gefällt vor allem der Teil mit der Potenzialschöpfung.
  • Danke für Deinen Blick auf ein Thema, dass ich fortan anders betrachten werde…
  • Obwohl #Hochbegabung eigentlich ein Massenphänomen ist, bleibt sie bei vielen unentdeckt. Oft sind erst ein #Burnout oder auch #Boreout im Erwachsenenalter, der zur Ursachenforschung führt und mit dieser „Diagnose“ endet.“ – Wertvoller Beitrag von @CKFJung in @t2informatik
  • Ein gutes Thema mit vielen Chancen … Potentiale aufzudecken und zu nutzen in der Unterschiedlichkeit der Menschen ist eine Aufgabe unserer Zeit.

Nach einer Anfrage von Michael Schenkel, der mir freie Wahl bei der Themenfindung ließ, entschied ich mich über die genannte Thematik zu schreiben.

Einblick in persönliche Erfahrungen

Diesen Beitrag schreibe ich, um einen Einblick in meine persönlichen Erfahrungen zu geben. Wann und wie ich entdeckte, dass ich hochbegabt bin und darüber, was das mit mir machte(e). Ich scheibe in der festen Überzeugung, dass hinter aller Theorie, allen Methoden der individuelle Mensch (in dem Fall ich) sichtbar werden sollte, weil nur das wirkliche Begegnung ermöglicht, die Veränderungen im Miteinander anstoßen kann.

Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit weiß ich von meiner hochsensiblen Hochbegabung. Seitdem engagiere ich mich seit drei Jahren ehrenamtlich in der Begleitung und Austausch mit überwiegend hochbegabten Frauen.

Viele Einblicke in (hochsensible) Hochbegabung erhielt ich durch meine Tätigkeit als Coach und Prozessbegleiterin und nahm wahr, dass die Fragen, die mich umtreiben, auch viele andere hochbegabte Menschen beschäftigen: Wie gehe ich mit meinem So-Sein, meiner Andersartigkeit, meinen vielfältigen Interessen um und wo und wie finde ich meinen Platz in dieser Arbeitswelt?

Des Weiteren ist der Beitrag ein Plädoyer für den Umgang mit Vielfalt in unserer Gesellschaft. Hochbegabung ist für mich ein Teil davon.

Zuletzt vertrete ich die These, dass alle Menschen aufgefordert sind, ihren Beitrag für einen entspannteren Umgang mit Hochbegabung zu leisten. Das ist eine ziemliche Herausforderung für ein Thema, welches zu den gesellschaftlichen Tabuthemen zählt.

Mein Werdegang

In meiner Familie und näheren Verwandtschaft ist das Thema Hochbegabung seitens unserer Kinder seit ca. 20 Jahren existent. Es schien mir immer vollkommen klar, dass ich nicht die Quelle der Hochbegabung sein kann.

Zum einem, da ich in Folge der Gewalterfahrungen, die ich in meiner Kindheit und Jugend erlebte, ein außerordentlich negatives Selbstbild hatte. Zum anderen, weil ich definitiv keinerlei Anzeichen dafür erkennen konnte und auch von niemanden in diese Richtung angesprochen wurde. Ich wußte nicht, dass ich somit die klassischen Vorurteile, wie Hochbegabte sind, selbst verinnerlicht hatte.

Ende 2018 fast 59-jährig ließ ich mich testen. Davor lagen ca. 3 Jahre, in denen ich mich an eine mögliche Hochbegabung heran tastete. Mein Zugang eröffnete sich 2012 bei einem Vortrag einer Co-Referentin während einer Veranstaltung zum Thema „Markt und Hochsensibilität“. Die Referentin stellte die Hochsensibilität in einer Art und Weise da, dass es bei mir klick machte. Sie zählte die positiven Anzeichen der Hochsensibilität auf, die zu selten benannt würden. Das Thema war zu dieser Zeit noch ziemlich exotisch.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich außerordentlich skeptisch, wenn solche Aufzählungen kamen, da ich immer wieder erlebte, dass von diesen Merkmalen nur ein Bruchteil auf mich passten.

Hier war es anders. Von ungefähr 10 Merkmalen passten alle und ich war schwer irritiert. Ich konnte mich mit der Referentin austauschen, das tat gut, um mit meinen Emotionen besser zurecht zu kommen. Mein „Anderssein“ erfuhr eine positive Erweiterung meines Selbstbildes und ermöglichte mir zum ersten Mal einen positiven Blick auf mein Leben.

In Folge beschäftigte ich mich ausführlich mit der Thematik, wobei es bei weitem noch nicht so viele Bücher dazu gab wie heute.

Mich mit Hochbegabung zu beschäftigen, war naheliegend, läuft sie einem fast zwangsläufig in der Literatur zur Hochsensibilität über den Weg und ich fand sie spannend.

So konnte ich nach und nach einen neuen Blick auf unsere Familiengeschichte werfen und tastete mich langsam an den Gedanken heran, vielleicht selbst hochbegabt zu sein.

Tasten deshalb, weil mir der Gedanke zunächst völlig absurd erschien und ich fürchtete, größenwahnsinnig zu sein und mein tiefes Bedürfnis nach „etwas zu sein“ die eigentliche Motivation wäre. Aber das Thema ließ mich nicht los und ich wollte es für mich klären. Im Herbst 2015 sprach ich für mich alleine den Satz laut aus: „Ich bin hochbegabt“ und es fühlte sich stimmig an.

Ich erzählte es einigen Menschen in meinem Umfeld. Des Öfteren machte ich die Erfahrung auf Irritation und Schweigen zu treffen. Ich kannte das schon, wenn ich von meinen Erfahrungen und Nöten in der Bewältigung meiner Traumageschichte sprach.

Nach und nach kam der Punkt, an dem ich so sicher war, wie man ungetestet sein kann, dass ich hochbegabt bin und schrieb es mutig auf meine damalige Website. Im beruflichen Kontext „entdeckte“ ich mit der Zeit, dass viele meiner Kund:innen nicht nur hochsensibel, sondern ebenfalls hochbegabt waren oder es vermuteten.

Auf Facebook fand sich 2018 eine Gruppe der späteren Gründerin von UnIQate Nicole Gerecht, die offenen Austausch bot für getestete und noch suchende Frauen.

Wow, was war dort für eine Dynamik, unglaublich spannende Geschichten gab es dort zu lesen. Ich tauchte zum ersten Mal in meinem Leben in eine Community ein, in der ich erlebte, ich kann sein wie ich bin: In meinem  Tempo die Dinge auf den Punkt bringen, keinerlei Smalltalk (Wie großartig! Inzwischen beherrsche ich Smalltalk ganz gut, aber mögen tue ich ihn trotzdem nicht), eine breite Palette höchst unterschiedlicher Lebensgeschichten und Begabungsformen – wunderbar!

Mutig übernahm ich 2018 ehrenamtlich mit einer weiteren Frau einen Stammtisch in Hannover, der spät erkannten hochbegabten Frauen einen geschützten Raum bot. Frauen, die im Beginn einer Auseinandersetzung mit ihrer Hochbegabung sind oder vermuteten, dass bei ihnen eine Hochbegabung vorliegen könnte. Coronabedingt findet dieser Stammtisch seit 6 Monaten online statt (inzwischen sind es 3 Jahre) und wird gerne und intensiv genutzt.

Im Frühjahr 2020 startete die Plattform von UnIQate und die Facebookgruppe wurde geschlossen. Um Mitglied zu werden und mich weiter mit hochbegabten Frauen auseinandersetzen zu können, war ein Test notwendig.

Das war ein profaner Grund, mich selbst testen zu lassen. Somit wurde mir fast 59-jährig meine Hochbegabung offiziell bestätigt. Obwohl ich zuvor schon so sicher war, machte das Testergebnis einiges mit mir, was ich so nicht erwartet hatte. Es löste unerwartet viele Emotionen in mir aus, weil mein Selbstbild noch einmal eine gravierende Veränderung erfuhr.

Ich befinde mich seitdem in einer andauernden Auseinandersetzung mit der Frage, was Hochbegabung bedeutet und wie sich bestimmte Erfahrungen in meinem Leben anders deuten lassen, wenn ich die Brille wechsele, mit der ich bisher auf mein Leben schaute.

Mich beschäftigt z. B. die Frage: Was geht noch mit meinen 61 Jahren? Was wäre möglich gewesen, wenn ich früher von meiner Hochbegabung erfahren hätte? Hätte ich andere berufliche Wege eingeschlagen? Wäre ich als Kind anders und entsprechend gefördert worden?

Diese Fragen stellen keinen Stress dar, aber sie begleiten mich kontinuierlich.

Im regelmäßigen Austausch mit hochbegabten Frauen lerne ich viel über die Facetten der Hochbegabung, die höchst individuell sind. Besonders hilfreich sind dabei der erwähnte Stammtisch, aber auch ein „Inner Circle“, der über UnIQate initiiert wurde, in dem sich mit mir drei weitere Frauen regelmäßig treffen und wir uns gegenseitig dabei unterstützen unsere PS auf die Straße zu bringen.

Einblicke in meinen Alltag

Mein Potenzial und meine Fähigkeiten lebe ich in meiner Arbeit als Coach und Prozessbegleiterin aus. Mein Kernanliegen ist hier, Menschen zu helfen herauszufinden, was sie wirklich wirklich wollen (als Einzelpersonen oder Teams), damit sie selbstbestimmt ihr Eigenes gestalten können. Diese Arbeit ist überwiegend Flow für mich, ich liebe sie.

Darüber hinaus habe ich eine Fülle von Interessen: Lesen (Zeitreisen, Kulturgeschichten, Fantasy, Fachbücher, etc.), ich bewege mich gerne (Joggen, walken, Spaziergehen, Wandern), liebe den Austausch über Themen wie New Work, dem guten Leben für alle, Nachhaltigkeit, Zukunft der Arbeit, etc. Ich lerne Sketchnoting, entwickle gerne Konzepte usw. usw.

Häufig ist nicht genügend Zeit für alle meine Interessen. Für mich funktioniert das Bild des Jonglieren am Besten. Irgendetwas geht immer und ich genieße die Wahlfreiheit. Aber es gibt auch Frust, weil es so viele Sachen sind, die ich gerne machen würde. Hier hilft mir mein eigener Ansatz weiter: Ich folge der Spur der Freude und schaue, was gerade stimmig ist.

Dazu kommen Treffen und Austausch mit anderen Hochbegabten und in Online-Events, die einen wertschätzenden Umgang miteinander pflegen, die, so meine Erkenntnis des Lockdowns, durchaus nährend sein können.

Allerdings brauche ich viel Zeit für mich. Vor allem, um die vielen Eindrücke und Emotionen zu verarbeiten, die ich aufnehme. Meine eigenen wie die anderer Menschen, die ich „auffange“. Das ist nicht leicht zu akzeptieren, wo es so unendlich viel Spannendes gäbe, was ich jetzt tun könnte … Ein fragiles Austarieren zwischen Über- und Unterforderung.

Fazit oder: Was hat das mit Diversität zu tun?

Jenseits aller klassischen Vorstellungen bzw. Vorurteilen bezüglich sogenannter Eliten oder Nerds weiß ich inzwischen sehr genau, wie differenziert die Facetten von Hochbegabung sind, mit/ohne Hochsensibilität, Autismus/Asperger, IQ-Höhe, Interessen, beruflichen Tätigkeiten, familiären und schulischen Erfahrungen und Prägungen und individuellen Traumaerfahrungen jeglicher Couleur, usw.

Auch Hochbegabung lässt sich eher als fließend beschreiben, wie es inzwischen nach der Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen für so viele Themen gilt. Wo fängt sie an, wie aussagekräftig ist der Wert, denn der IQ-Wert von 130 Punkten, der für die Testung relevant ist, wird schon länger, gut begründet, in Frage gestellt.

Viele Hochbegabte beschäftigen die gleichen Fragen, bei aller Heterogenität:

  • was heißt Hochbegabung für mich,
  • wie kann ich meine Potenziale erkennen,
  • wie gehe ich mit meinen hohen Ansprüchen an mich um,
  • wo finde ich Arbeitgeber, die mich schätzen und fördern, statt mir mit blöden Sprüchen kommen, sofern sie überhaupt von der Hochbegabung der Mitarbeiter:in wissen:

„Ich bin eben endlich dazu gekommen, deinen Artikel zu lesen und ich finde ihn klasse! Am liebsten würde ich ihn unserer Personalabteilung oder dem einen oder anderen Abteilungsleiter schicken… aber dann müsste ich mich ja outen…“

Es ist ein Outing, da das Thema Hochbegabung nach wie vor zu den gesellschaftlichen Tabuthemen in Deutschland gehört. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern, in denen die Förderung Hochbegabter selbstverständlich ist. Dass die Thematik in Deutschland so schwierig ist, hängt mit Vorurteilen zusammen, was Hochbegabung ist, die z. B. aus der Elitenförderung der NS-Zeit stammen.

Gleichzeitig gehört die Debatte über das, was Hochbegabung und ihre diversen Formen sind, für mich in die gesellschaftliche Auseinandersetzung im Umgang mit Vielfalt und Diversity.

Es schließt sich der Kreis: Die meisten Menschen plädieren für Vielfalt und Akzeptanz von Menschen in unserer Gesellschaft, wenn man sie fragt. In dem Moment, in dem diverse Menschen aufeinandertreffen (und ich nehme mich davon keineswegs aus), kommen wir ins Schleudern.

Zwischen Neugier, Verunsicherung (z. B. wie spreche ich das Thema an) und der Frage, die uns meistens nicht bewusst ist und sie deshalb nicht stellen: Wer bin ich, was macht mich aus, wozu und wofür bin ich in diesem Leben. Unausgesprochen zeigt sich hier die Angst, die nicht zu unterschätzen ist, dass das Ergebnis lauten könnte: Da ist nichts.

Was also tun?

  • einfach neugierig nachfragen: Warum machst du das, was du tust, wie meinst du das, hilf mir zu verstehen, wie du das meinst, etc. So wie man einen neuen Ort erkundet, der einen interessiert.
  • zu verstehen, dass Hochbegabten ihr eigenes Leben oft selbst schwer verständlich ist, weil auch sie mit den tief verinnerlichten Vorstellungen zu kämpfen haben, wie Hochbegabte sind. Sie brauchen wohlwollendes Feedback, so wie alle anderen Menschen auch.
  • lernen mutig zu sagen: Ich kann dir nicht folgen. Wie bist du jetzt zu diesem Ergebnis, dieser Lösung gekommen.
  • Hochbegabte darin zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entdecken und wertzuschätzen. Damit sie eine Chance haben, ihr Potenzial für sich selbst und für die (Arbeits) -gesellschaft einzubringen.

Dialogfähigkeit, Offenheit für Vielfalt, echtes Interesse an anderen Menschen und deren Erfahrungen und Toleranz sind Qualitäten, die wir für eine gelingende Zukunft dringend benötigen. Das trifft für alle Menschen zu. Darin zu investieren ist eine Aufforderung an uns alle, denn wir sind alle verschieden und doch verbunden.

*Foto von Matthias Jung

 

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