In diesem Beitrag erzähle ich chronologisch, wie ich meine Hochbegabung entdeckte. Anschließend betrachte ich spezielle Bereiche meines Lebens – wie Schule, Ausbildung, Beruf und Hochkreativität –, die mit dem heutigen Wissen eine Neubewertung erhielten.

Über die Jahre habe ich meine Geschichte, wie ich zu einem Hochbegabungstest kam, schon oft erzählt. Die Blogparade von Susanne Burzel, an der ich mit diesem Beitrag teilnehme, ist nun der perfekte Anlass, sie ausführlich aufzuschreiben. Im Laufe der Zeit lernte ich viele Frauen kennen, die erst spät auf ihre Hochbegabung stießen. Deshalb nutze ich gern diese Gelegenheit, auf das Thema aufmerksam zu machen.


Wie bin ich auf meine Hochbegabung gestoßen?

Mein Anderssein ließ sich jahrzehntelang durch die Traumata erklären, die ich früh erlebt habe – und die mich mein Leben lang begleiten.

Mit dem Thema Hochbegabung kam ich, wie so viele Frauen, über unsere Kinder in Kontakt. Und – ebenfalls wie viele der Frauen, die ich heute kenne – ging ich davon aus, dass unsere Kinder diese Begabung von meinem Mann geerbt hätten.

Mitte meiner Fünfziger war ich als Referentin zu einem Thema rund um Hochsensibilität und Markt eingeladen. Von Hochsensibilität hatte ich vorher schon gelesen und fand sie interessant – jetzt hoffte ich, mehr darüber zu erfahren.

Eine Psychologin hielt dazu einen Vortrag, und ich staunte.
Ihr Anliegen war es, die positiven Aspekte der Hochsensibilität zu betonen – denn in Literatur und Öffentlichkeit läge der Fokus meist auf den Schwierigkeiten, dem wollte sie etwas entgegenhalten.

Gegen Ende ihres informativen Beitrags zählte sie die positiven Merkmale auf. Ein Teil von mir reagierte zunächst abwehrend. Zu oft hatte ich erlebt, dass bei solchen Aufzählungen die meisten Punkte nicht auf mich zutrafen.

Doch dieses Mal: nahezu alle Punkte passten. Ein echter Wow-Moment, der mich emotional tief berührte.

Wieder zu Hause las ich mich in die – damals noch spärliche – Literatur zur Hochsensibilität ein. Ein Klassiker waren für mich die Bücher von Andrea Brackmann, die neben vielen anderen Themen auch auf Hochbegabung einging.

Irgendwann konnte ich dem Thema nicht mehr ausweichen – und traute mich, mir einzugestehen, dass ich hochbegabt bin. Ich sprach es laut aus, nur für mich, und es fühlte sich stimmig an.

Zunächst reichte mir diese Erkenntnis. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, wozu ich einen Test brauchte.


Erkannt, getestet, angekommen

Kurz darauf entdeckte ich auf Facebook eine Gruppe von Nicole Gerecht für hochbegabte Frauen – beziehungsweise für Frauen, die diese vermuteten. Die Beschreibung sprach mich sofort an, und ich bewarb mich – mit heftigem Herzklopfen.

In dieser Gruppe entdeckte ich eine neue Welt – und zum ersten Mal in meinem Leben eine Zugehörigkeit zu Menschen, bei denen ich einfach so sein konnte, wie ich bin.
Schon bald übernahm ich, gemeinsam mit einer anderen Frau, die Gründung eines neuen Stammtischs in Hannover. Er richtet sich ebenfalls an hochbegabte oder suchende Frauen.

Kaum gegründet im Jahr 2018, folgte schon die nächste Entwicklung: Aus der Facebook-Gruppe sollte eine Plattform für hochbegabte Frauen werden – mit der Voraussetzung, dass nur getestete Frauen Mitglied sein konnten (diese Plattform gibt es inzwischen nicht mehr, aber eine Website und eine LinkedIn-Gruppe).

Auf dieser Plattform wollte ich unbedingt dabei sein! Stande pede suchte ich mir eine Testerin und ließ mich Ende 2018 testen.

Mein Herz klopfte heftig – die Aufregung war groß, obwohl ich mir längst sicher war, dass ich hochbegabt bin.

Die Hochbegabung wurde bestätigt – im reifen Alter von fast 59 Jahren. Inzwischen bin ich 65. Ich brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten – so sehr veränderte sich durch den bestätigten Test mein Blick auf mein Leben. Vieles wollte neu angeschaut und bewertet werden.

Dabei half sicherlich, der monatliche Stammtisch, den es nach wie vor gibt – seit Corona online.

Inzwischen kenne ich viele Geschichten von Frauen zu diesem Thema. Die gesellschaftlichen Annahmen darüber, was Hochbegabung ist und wie sie sich zeigt, haben mich – wie uns alle – unbewusst geprägt.
Mit diesen Annahmen gilt es sich auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln.

Seit 2020 bin ich Mitglied bei Mensa – und habe meine „Herde“ gefunden. Auch wenn in meinem Alltag nach wie vor nicht ausreichend nährende Präsenzkontakte vorhanden sind.


Rückblicke und Neubewertungen

Schule

Wie kam ich durch die Schule? Völlig unauffällig. Ohne große Anstrengung hielt ich mich im besseren Mittelfeld. Nur Mathe und Englisch konkurrierten wechselweise um eine Drei oder Vier. Heute gehe ich davon aus, dass die Lehrmethoden für mich nicht passten. Die Schule habe ich mit der 10. Klasse abgeschlossen. Abitur zu machen traute ich weder mir selbst noch jemand anders mir zu.

Ausbildung

In meiner ersten Ausbildung zur Krankenschwester – das gleiche Spiel. Mittelfeld, wenig Aufwand. Die Praxis lag mir mehr.

Der Wandel kam erst gegen Ende der Ausbildung. Heute weiß ich, warum: Wir waren früh mit dem Stoff durch und hatten viel Zeit zum Wiederholen. Ein neuer Arzt motivierte mich zusätzlich.

Trotzdem lernte ich nicht – bis Pfingsten. Da traf mich die Erkenntnis: Die erste Prüfung ist schon Anfang August!
Ab sofort lernte ich konsequent. In den mündlichen Prüfungen war ich dann so gut, dass ich in jedem der fünf Fächer mit einer Eins oder Zwei abschnitt. Ausgangsnote war eine Drei Minus.

Studium

Mit 39 begann ich zu studieren – ohne Abitur. Über ein weiterbildendes Studium in Frauenstudien und eine Einstufungsprüfung wechselte ich ins reguläre Studium der Erziehungswissenschaft.

Ich ging mit der Befürchtung an die Uni: Werde ich mit all den klugen Köpfen mithalten können?
Ein Gedanke, der sich schnell auflöste. Ich konnte – und in mir ging eine neue Welt auf. Endlich bekam mein Kopf genug zu tun.

Beruf

Seit 2007 arbeite ich als Coach. 2010 entwickelte ich das Wesenskernspiel, welches sich an Menschen richtet, die viele Interessen haben, hier nachzulesen. Über die Jahre fand sich meine Zielgruppe, unter der sich viele Hochsensible, Hochbegabte, Vielbegabte und Scanner finden. Das ich dieses Spiel entwickeln konnte, verdanke ich meiner Hochkreativität, s. nächster Abschnitt. Auch das war eine wichtige Erkenntnis über mein So-Sein.

Meinen beruflichen Werdegang erzähle ich hier:
Einzigartig und erfolgreich – wie ich als Coachin meine Traumageschichte als Ressource nutze

Darüber habe ich auch hier geschrieben:
Hochbegabung zwischen individuellem Erleben und Vorurteilen – ein persönlicher Einblick


Hochkreativität

Die bisherige Geschichte möchte ich um eine wichtige Erkenntnis ergänzen: das Entdecken meiner Hochkreativität, in diesem Jahr (2025). Sie erscheint mir wie ein Schlussstein im Verständnis dafür, wie ich „ticke“.

Ich bin eine Anleitungslegasthenikerin – so begann ich kürzlich einen Beitrag auf LinkedIn.

Noch nie gehört? Kein Wunder – ich habe das Wort erfunden. Und natürlich will ich damit niemandem auf die Füße treten.
Worum geht es? Ich verstehe die meisten Anleitungen nicht. Ich fange an zu lesen – und je länger ich lese, desto mehr Kopfsalat entsteht in meinem Kopf.

Irgendwann, vor vielen Jahren, habe ich aufgegeben und mir Hilfe geholt. Früher, jahrelang, tat ich das mit dem Gefühl: Ich bin einfach doof.

Zu wissen, dass ich hochbegabt bin, hat das zunächst nicht besser gemacht.

Bis ich anfing zu verstehen, dass ich kein linear denkender Mensch bin. Ich verstehe Dinge dann, wenn sie intuitiv und ganzheitlich beschrieben sind.

Von Birgit lernte ich, dass es zwei grundsätzliche Denkstile gibt: konvergentes, lineares Denken (höher, schneller, weiter) und divergentes Denken (dynamisch, vernetzt, kreativ).
Zu verstehen, warum ich so anders denke, war eine Erlösung.

Vor einigen Wochen erlebte ich den nächsten Aha-Moment: Ich bin ein hochkreativer Mensch.
Mehr dazu würde hier den Rahmen sprengen. Ich empfehle dir aber sehr den Beitrag von Birgit, den sie kürzlich beim Verband Neurodiversität gehalten hat:
Der erste Dienstag – Vortrag von Birgit Wegrich-Bauer

Für mich hat sich damit eine Lücke geschlossen. Nach all den Jahren verstehe ich endlich, wie ich ticke – und warum ich oft Lösungen finde, die ich nicht erklären kann.

Was ich mir wünsche?

Gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung, Förderung von Hochbegabten in allen Bereichen, Aufräumen mit Vorurteilen und einen differenzierten Blick auf die vielen Facetten neurodivergenter Menschen und ihren wertvollen Beiträgen zur Gesellschaft.